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Reform der Verordnung Brüssel I


Europäische Kommission verringert bürokratische Hürden für Unternehmen und Verbraucher bei grenzüberschreitenden Gerichtsverfahren
Exequaturverfahren soll abgeschafft werden:
Verfahren für die Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen zwischen den Mitgliedsstaaten

(20.12.10) - Ein Fall aus der Praxis: Für die Errichtung einer Fabrik in der Nähe von Paris hat eine in Frankreich ansässige Firma einen Bauvertrag mit einem Unternehmer in Polen abgeschlossen. Die beiden Firmen einigen sich darauf, dass ein Warschauer Gericht für alle vertragsrelevanten Streitfragen zuständig ist.

Das polnische Unternehmen lädt die französische Firma vor Gericht, da diese mit den Zahlungen in Verzug geraten ist. Das Warschauer Gericht entscheidet, dass die französische Firma den ausstehenden Betrag zahlen muss. Das polnische Unternehmen will, dass dieses Urteil auf die Vermögenswerte der französischen Firma in Frankreich angewandt wird.

Unter den gegenwärtigen Voraussetzungen müsste das polnische Unternehmen zunächst ein zeitraubendes Verfahren vor einem französischen Gericht anstrengen, das als "Exequaturverfahren" bezeichnet wird – die dabei anfallenden Kosten könnten sich auf bis zu 3 000 Euro belaufen.

Das "Exequaturverfahren", das jährlich mehr als 10.000mal in der Europäischen Union durchgeführt wird, ist angesichts der Entwicklung des Europäischen Binnenmarktes und des gegenseitigen Vertrauens der Mitgliedstaaten in ihre für Zivil- und Handelssachen maßgeblichen Rechtssysteme nicht mehr zeitgemäß.

Daher schlug die Europäische Kommission jetzt vor, das "Exequaturverfahren" abzuschaffen; so könnten bis zu 48 Mio. Euro jährlich eingespart werden und grenzüberschreitende Aktivitäten von Unternehmen, insbesondere von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), erleichtert werden.

Die Kosteneinsparung ist Bestandteil des Vorschlags der Kommission für eine tiefgreifende Reform der sogenannten Verordnung "Brüssel I" aus dem Jahr 2001, bei der es sich um EU-Vorschriften handelt, die bestimmen, welches Gericht in grenzüberschreitenden Fällen zuständig ist und wie die in einem Mitgliedstaat erlassenen gerichtlichen Entscheidungen in einem anderen Mitgliedstaat der EU anerkannt und vollstreckt werden.

Mit der Reform soll der Binnenmarkt gestärkt und der bürokratische Aufwand abgebaut werden. Sie wird auch den Schutz Europäischer Verbraucher bei deren Geschäftsaktivitäten in Drittländern fördern, die Rechtssicherheit für Gerichtsstandsvereinbarungen zwischen Unternehmen ausbauen und die Wettbewerbsfähigkeit der gewerblichen Schiedsgerichtsbarkeit in Europa verbessern.

"Die Kommission hat vorgeschlagen, ein kompliziertes und kostenaufwendiges Verfahren für die Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen zwischen den Mitgliedsstaaten zu beseitigen. Das sind gute Nachrichten für Europas Bürger und die KMU. Unsere Vorschläge werden für eine schnellere und kostengünstigere Beilegung von grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten sorgen mit Einsparungen zwischen 2 000 und 12 000 Euro in einzelnen Fällen", erklärte Kommissions-Präsident José Manuel Barroso.

"In einem echten Binnenmarkt sollten gerichtliche Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, die in einem Mitgliedstaat ergangen sind, in allen anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union vollständig anerkannt werden. Daher schaffen wir heute das nicht mehr zeitgemäße und überaus bürokratische Exequaturverfahren ab und beseitigen damit eine abschreckende Hürde für grenzüberschreitende Geschäftsaktivitäten in Europa", so Viviane Reding, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission und EU-Kommissarin für Justiz. "Ich verfolge das Ziel, dass bis zum Jahr 2013 gerichtliche Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen wirksam, zügig und kostengünstig in der gesamten EU vollstreckt werden können, wobei es keine Rolle spielen sollte, ob die Entscheidung von einem inländischen Gericht oder von einem Gericht in einem anderen Mitgliedsstaat erlassen worden ist."

Obwohl die Unternehmen aufgrund des Binnenmarkts der Europäischen Union Zugang zu einem Markt mit 500 Millionen Verbrauchern haben, betreibt nur ein Viertel der 20 Millionen KMU in Europa grenzüberschreitenden Handel. Einer vor kurzem durchgeführten Erhebung zufolge würden fast 40 Prozent der Unternehmen eher dazu geneigt sein, Geschäftsaktivitäten außerhalb ihres inländischen Marktes zu betreiben, wenn die Verfahren zur Beilegung von gerichtlichen Streitigkeiten im Ausland vereinfacht würden.

Daher ist die Abschaffung bürokratischer Hürden, die im Geschäftsverkehr zusätzliche Kosten und Rechtsunsicherheit mit sich bringen, ein Schwerpunkt der Initiative der Kommission, mit der sie darauf abzielt, das Leben für Unternehmen und Bürger einfacher zu gestalten.

Die Kommission verständigte sich heute auf eine Reform der Verordnung "Brüssel I" aus dem Jahr 2001. Diese Verordnung ist von grundlegender Bedeutung für grenzüberschreitende Rechtsstreitigkeiten, da sie bestimmt, welches Gericht in grenzüberschreitenden Rechtssachen zuständig ist. Sie ermöglicht es ferner, dass in einem Mitgliedstaat ergangene gerichtliche Entscheidungen in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt werden.

Die von der Kommission heute vorgeschlagene Reform sieht vier grundlegende Änderungen vor:

Abschaffung des schwerfälligen "Exequaturverfahrens": Nach den geltenden Vorschriften ist eine in einem Mitgliedstaat ergangene gerichtliche Entscheidung nicht automatisch in einem anderen Mitgliedstaat rechtskräftig. Sie muss zunächst bestätigt und in einer besonderen Zwischenphase von einem Gericht im Vollstreckungsmitgliedstaat für vollstreckbar erklärt werden – dies ist das sogenannte "Exequaturverfahren".

In komplexen Fällen kann dieses Verfahren bis zu 12.700 Euro an Anwaltsgebühren sowie Übersetzungs- und Gerichtskosten verursachen. Außerdem könnten in einigen Ländern mehrere Monate vergehen, bis eine gerichtliche Entscheidung anerkannt ist und vollstreckt wird.

In fast 95 Prozent der Fälle ist das Verfahren eine reine Formalität. Die Kommission schlägt daher vor, dieses Verfahren abzuschaffen. Damit werden künftig gerichtliche Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, die von einem Gericht in einem Mitgliedstaat erlassen wurden, automatisch EU-weit vollstreckbar sein. Dennoch könnte die Vollstreckung einer gerichtlichen Entscheidung von einem Gericht gestoppt werden, allerdings nur unter besonderen Umständen (beispielsweise bei einer Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren durch das Gericht, das die Entscheidung im Ausland erlassen hat).

Förderung des Verbraucherschutzes bei Rechtsstreitigkeiten, in die Drittstaaten involviert sind: Derzeit weichen die nationalen Zuständigkeitsvorschriften für Beklagte aus Drittstaaten in den einzelnen Mitgliedstaaten weit voneinander ab. Aufgrund der Rechtsvorschriften eines Landes kann es zulässig sein, dass ein Bürger oder ein Unternehmen einen Beklagten aus einem Drittland vor ein nationales Gericht lädt, während dies in einem anderen Land nicht möglich ist. Mit der heute vorgeschlagenen Reform wird sich dies ändern. Vor allem in den Beziehungen zwischen einem Verbraucher mit Wohnsitz in der EU und einem außerhalb der EU ansässigen Unternehmen werden künftig - unabhängig vom Mitgliedstaat - die Gerichte des Landes zuständig sein, in dem der Verbraucher seinen Wohnsitz hat.

Rechtssicherheit für Gerichtsstandsvereinbarungen zwischen Unternehmen: Im Rahmen ihrer geschäftlichen Beziehungen verständigen sich die Unternehmen häufig darauf, dass alle Rechtsstreitigkeiten vor einem besonderen Gericht beizulegen sind. Allerdings haben rechtsstreitigkeitsbedingte Taktiken dazu geführt, dass die Gültigkeit solcher Gerichtsstandsvereinbarungen bei einem Gericht eines anderen EU-Mitgliedstaats angefochten wird, um die Beilegung der Rechtsstreitigkeit zu verzögern – ein Vorgehen, das mitunter als "italienischer Torpedo" bezeichnet wird. Die Kommission schlug heute Maßnahmen vor, um solchen missbräuchlichen Taktiken ein Ende zu bereiten, indem sie sicherstellt, dass das in der Gerichtsstandsvereinbarung festgelegte Gericht stets als erstes entscheidet, ob die Vereinbarung gültig ist oder nicht.

Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der gewerblichen Schiedsgerichtsbarkeit in Europa: Die Reformvorschläge der Kommission enthalten klare Regeln zur Schiedsgerichtsbarkeit, die bisher nicht unter die Verordnung "Brüssel I" fällt. Über 60 Prozent der großen Europäischen Unternehmen ziehen ein Schiedsverfahren einer Streitbeilegung vor Gericht vor. Europas Schiedszentren in London und Paris bearbeiten Fälle im Gesamtwert von 50 Milliarden Euro. Dies entspricht einem Volumen von 4 Milliarden Euro jährlich in der EU. Derzeit kann jedoch ein Unternehmen, das eine Schiedsvereinbarung umgehen will, relativ leicht behaupten, dass diese ungültig sei, und Klage erheben vor dem Gericht eines Mitgliedstaats, in dem wahrscheinlich eine günstige Entscheidung, welche die Gültigkeit der Schiedsvereinbarung in Frage stellt, gefällt wird. Deshalb schlug die Kommission heute vor, Unternehmen die Sicherheit zu geben, dass die Wahl des Schiedsgerichts vor Klagemissbrauch geschützt wird.

Hintergrund
Die Verordnung Brüssel I erleichtert die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen in der EU, indem sie die für die Beilegung grenzüberschreitender Rechtsstreitigkeiten am besten geeignete gerichtliche Zuständigkeit bestimmt und die reibungslose Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen, die in einem anderen Mitgliedstaat ergangen sind, sicherstellt. Damit trägt sie zu einem ordnungsgemäßen Funktionieren des Binnenmarktes bei.

Acht Jahre nach Inkrafttreten der ursprünglichen Verordnung möchte die Kommission mit ihren Reformvorschlägen diese Verordnung nun effizienter gestalten.

Der Vorschlag zur Abschaffung des "Exequaturverfahrens" schließt sich an Maßnahmen an, die bereits angenommen wurden: Europäischer Zahlungsbefehl (vereinfachtes Verfahren für unbestrittene grenzüberschreitende Zahlungsforderungen), Europäisches Verfahren für geringfügige Forderungen zur Abwicklung grenzüberschreitender Forderungen mit einem Streitwert von weniger als 2.000 Euro und Verordnung über Unterhaltspflichten in der EU.

Im April 2009 gab die Kommission neben einem Bericht über die Anwendung der Verordnung Brüssel I ein Grünbuch mit einem Überblick über die verschiedenen politischen Optionen heraus.

Die Kommission veröffentlichte jetzt auch ein Grünbuch mit mehreren Optionen zur Erleichterung des freien Verkehrs von Personenstandsurkunden.

Nächster Schritt
Jetzt müssen das Europäische Parlament und der Ministerrat dem Vorschlag der Kommission für eine Reform der Verordnung Brüssel I zustimmen.
(Europäische Kommission: ra)


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